Birgit Huebner

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szenen

Der französische Schriftsteller Roland Barth hat die Fotografie einmal als die Geschichte des Blickes bezeichnet. Denn sie ist es, die den Blick auf die Wirklichkeit veränderte. Direkt, jedoch ohne Aufdringlichkeit, trägt die Fotografie die Erinnerung an einen gesehenen Moment weiter. In dem Augenblick, in welchem der Auslöser Klick macht, wird die Zeit auf Celluloid gebannt, eingefroren und das „Leichentuch der Pose“, wie es Barth so schön pathetisch umschrieben hat, zerreißt. Mit anderen Worten, der Prozess der Herstellung ist zwar stets ein mechanischer und daher jederzeit reproduzierbar, das, was dargestellt ist, gibt hingegen ein existentiell einmaliges Ereignis wieder, nämlich das absolut Besondere und Zufällige, das Wirkliche in seinem unerschöpflichen Ausdruck, das Zwangsläufige. Da der Fotograf es ist, der uns, dem Betrachter, diesen seinen Blick auf die Wirklichkeit durch seine Aufnahme offeriert, erzählt er uns mithin etwas aus seinem eigenen bebilderten Tagebuch, von seiner Umgebung, seinen Freunden und Reisen. Er zeigt uns seinen ehemals geworfenen Blick durch die Verschlussöffnung seiner Kamera als ausgeschnittenes Bild von etwas persönlich Erlebtem; und sein Blick dupliziert sich hiernach wiederum im Blick des Betrachters.

Auf überzeugende Weise suggerieren gerade die großformatigen in die Architektur der Fenster eingepassten Motive der Düsseldorfer Künstlerin Birgit Huebner, dass diese Art von Duplizierung auch extreme Nähe bedeuten kann. Eine Nähe, die auf den Betrachter eine bestechende Anziehungskraft ausübt, der er sich nur mühevoll erwärt. Einerseits sicherlich dadurch ausgelöst, dass der gewohnte Blick nach draußen auf die Fassade der gegenüberliegenden Einkaufspassage plötzlich verstellt ist. Andererseits jedoch erscheinen die von Birgit Huebner ausgewählten Szenerien irgendwie auch vertraut, eben nah, als würde man in einem Fotoalbum blättern. Den Blick des Betrachters fixierend schauen ihm leere Augen und schlaff gewordene Arme von übereinander gestapelten Tintenfischen entgegen, ein typischer Anblick, wie man ihn überall auf dem Fischmarkt antrifft; ein Riesenrad, aufgetürmt hinter wenigen weiträumig verstreuten Besuchergrüppchen, denn Wasserpfützen am Boden verraten, dass es zuvor geregnet haben muss; eine einsam auftretende Schaufensterpuppe mit festlichem Wollkleid, aber ohne Kopf; Fesselballons, die am gegenüberliegenden Ufer eines Sees aufsteigen und ihren farbig-runden Korpus als Reflexion auf die Oberfläche des Wassers werfen; eine nächtliche Straßenszene, in der die Scheinwerfer der Autos dem dunklen Asphalt hellen Kontrast bieten; eine Karawane von Tieren, wie man sie irgendwo in der afrikanischen Steppe vermuten würde, wären sie nicht ausgestopft, sondern lebendig.

Sechs Bilder, sechs unterschiedliche Eindrücke, sechs unterschiedliche Erinnerungen an bestimmte Orte und Situationen, welche die Künstlerin bereist und erlebt hat. Zum Anschauen und Stöbern ist das Bilderbuch vor uns ausgebreitet worden. Und dieser narrative Aspekt der Installation ist es auch, der die Bilder miteinander verbindet. Verführt durch die lineare Aneinanderreihung beginnt ein jeder von links nach rechts die Bildfolge abzutasten und mit jedem einzelnen Bild eine neue Geschichte aufzunehmen, immer wieder aus einer anderen Perspektive erzählt und an anderen Orten stattfindend.

Neben dieser kontinuierlichen Variation und Weiterentwicklung eines bereits vorhandenen Fundus an fotografischem Bildmaterial, umfasst die Fensterinstallation noch andere für die Arbeit von Birgit Huebner charakteristische Komponenten. So zum Beispiel das transparente Material der Backlite-, also Rücklichtfolie, das damit dem Licht eine gestaltende Kraft zuweist. Tritt es bei Tage von Außen durch die Folie, so wird es, von den hellen und dunklen Partien moduliert, zu einem wichtigen Bestandteil des Bildes. Gleichsam erreicht die Künstlerin gerade durch das Umfunktionieren der Fensterreihe als Bildträger einen harmonievollen Umgang mit der Architektur und Gliederung des vorgefundenen Raumes. Eine weitere Intention ihrer Arbeit. Ebenso wie ein gewisser Kippmoment, wie die Künstlerin es nennt, zwischen Kulissenhaftem und Wirklichem, zwischen Inszenierung und Natur, der die Echtheit eines jeden Motivs anzweifeln lässt. Auch wird der Ort auf diese Weise gleichgültig, belanglos. Barbara Bongartz bezeichnet diese Beliebigkeit des „wo“ und „wann“ treffend als „verkleinerte Orte … irgendwo zwischen Düsseldorf, Ägypten, New York und Paris“. Vor allem Paris, die Stadt, in der Birgit Huebner während ihres Studiums einige Zeit verbracht hat. Doch was genau lokalisiert den Straßenabschnitt, auf dem sich eine ältere, beleibte Frau mit ihren beiden Hunden entlang hangelt, nun ausgerechnet als Pariser Bürgersteig? Zumal sich unser Blick respektive der der Künstlerin nur auf die beiden Hunde an der Leine und den Unterleib der Frau reduziert. Könnte diese Szenerie sich nicht irgendwo auf der Welt ereignen? Zumindestens an irgendeinem Ort, wo man es gewohnt ist, seinen tierischen Lebensgefährten in grauen Asphaltgärten Gassi zu führen. Da denkt man schon eher an Paris, gleitet man vorbei an den eleganten Schaufensterpuppen, deren Kopf zwar als nichtige Nebensächlichkeit fehlt, deren drapierte Stoffe und Roben jedoch um so eindringlicher die Welt des schönen Scheins suggerieren.

Das Erzählerische ihrer Motive setzt sich fort. Schreitet man die Reihe der kleinformatigen mit Eiweißlasur kolorierten Schwarzweiß-Fotos entlang, begegnet der Betrachter abermals Momentaufnahmen trivialer Alltagshandlungen. Aufgrund der farbigen Akzentuierung – jedes Motiv besitzt seine ihm eigene Farbigkeit – wird das Dargestellte zusätzlich in eine atmosphärische Stimmung eingebettet. Eine Szene an einem Pariser U-Bahnhof. Imaginierte hallende Geräusche von hastenden Menschen, Stimmen, das Quietschen des einfahrenden Zuges, die Durchsagen über Lautsprecher scheinen völlig präsent. Die Passanten laufen schnellen Schrittes dem Betrachter entgegen. Mobilität, Geschäftigkeit, Dynamik der Masse, Anonymität des Einzelnen, Schlagworte, die Birgit Huebner in einem kalten Gelb versucht hat einzufangen. Ganz anders empfindet man die Atmosphäre von der Aufnahme eines Lesesaals in einer Bibliothek und der des Mannes am See. Beide Fotos sind in Armenien entstanden, das eine in Jerewan, das andere am Sewansee. Und beide sind Orte der Ruhe, der Betrachtung, der Erinnerung. Sie gewähren einen Augenblick der Stille, des Nachdenkens, vielleicht auch ein wenig der Melancholie, denkt man bei der Rückenansicht des Mannes, dessen Blick über den See der Betrachter aufnimmt, an Tiefen- und Fernblicke über die Rügener Kreideklippen oder die in Nebelbänke gehüllten Bergspitzen bei Caspar David Friedrich. Intime, alltägliche Handlungen bannen unsere Aufmerksamkeit, versetzen uns, stellvertretend für die Fotografin, in die Rolle eines Voyeurs, der in private Sphären eindringt, ohne dass sich die Beobachteten dessen bewusst sind.

Auf eine ganz andere Weise intim und leise wirken ihre Aufnahmen aus Saint-Denis auf den Betrachter. Diesmal fokussiert auf den Kopfbereich blicken wir in das Antlitz einer Verstorbenen, deren weiche beinahe kindlichen Züge in Marmor festgehalten sind. Es ist ein sehr einprägsames Motiv, welches gerade durch die von Birgit Huebner gewählte Nahsicht etwas Sakrales und zugleich Beredtes ausstrahlt. Das ehemalige Benediktinerkloster, das sich im Norden von Paris befindet, war über einige Jahrhunderte die Grabesstätte der französischen Könige. Ein Ort der Kontemplation und Ruhe, wiedergespiegelt in der Pose eines Herrscherpaares, das kniend im Gebet versunken zu sein scheint. Auch hier erfährt die ungewöhnliche Perspektive einen Kippmoment, indem nämlich ihr Haupt das ihres Gatten verdeckt und man beim ersten Anblick glaubt, ein einziges, geschlechtlich unbestimmtes Wesen vor sich zu haben. Das durch die gotischen Fenster der Kathedrale eintretende Licht, welches normalerweise die Gewänder der Steinfiguren in lebendige Farbtöne taucht, wird aufgrund der Schwarzweiß-Fotografie zwar neutralisiert. Doch hat die Künstlerin die einzelnen Grauabstufungen derart fein gezeichnet, dass die beiden vor ihrem Gebetbuch Knienden uns etwas sehr Menschliches, Echtes übermitteln.

Die ehemalige Hüppi-Meisterschülerin beschränkt ihr künstlerisches Arbeiten nicht ausschließlich auf den häufig erwähnten erzählerischen Moment. Sowohl das Aufsuchen von ungewöhnlichen fotografischen Perspektiven eines Close-ups als auch das Überarbeiten und Transformieren vorhandenen Bildmaterials paaren sich bei ihr immer mit der bewussten Auseinandersetzung des Ortes, an dem sie ihre persönlichen Ortschaften präsentiert. Ihr gelingt es einfühlsam ein synthetisches Gesamtbild von Architektur und Fotografie zu schaffen, so dass sich der Ort ihrer persönlichen Geschichte stets einfügt in den der Öffentlichkeit. Birgit Huebner fordert den Betrachter also nicht nur auf, sich das einzelne Bild zu vergegenwärtigen, sondern es insbesondere im gesamten Raumkontext wahrzunehmen und dadurch seinen eigenen Standpunkt immer wieder aufs Neue zu hinterfragen. Das Abenteuer Sehen, zu dem die Künstlerin einlädt, hat Roland Barths in einem prägnanten Satz formuliert, der gleichsam als abschlie?ende Liebeserkl?rung an die Fotografie zu lesen ist:
„Ich sehe, ich fühle, also bemerke ich, ich betrachte und ich denke“.

Nicole Heusinger

Einführungsrede anläßlich der Ausstellung

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